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"Wenn die Vorteile überwiegen, müssen wir das machen"

Fr, 24.11.2006
Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über Projekte der großen Koalition. Darüber hinaus äußert sie sich zu den Auswirkungen der Globalisierung und der Lage in Afghanistan.


Das Interview im Wortlaut:
 
FAZ: Frau Bundeskanzlerin, sind Sie mit Ihrem ersten Regierungsjahr zufrieden?
 
Merkel: Ich bin alles in allem zufrieden. Ich glaube, dass wir in der großen Koalition eine ganze Menge auf den Weg gebracht haben. Wir wissen, dass uns aus dem Wahlergebnis, so wie es war, eine Verantwortung erwächst.
 
Die Bundesregierung ist gewillt, diese Verantwortung gemeinsam zu nutzen und daraus das zu machen, was nach der Programmatik der beiden Parteien und der Koalitionsvereinbarung möglich ist.
 
Ich glaube, dass insbesondere der Dreiklang "Sanieren, Investieren, Reformieren" richtig und wichtig ist.
 
FAZ: Teilen Sie die Kritik aus Ihrer eigenen Partei, dass in der Regierungsarbeit und in der Gesetzgebung die Handschrift der SPD sichtbarer wird als die der Union?
 
Merkel: Diese Kritik ist inzwischen weitgehend verstummt. Die Partei registriert: Die Erbschaftssteuerreformreform, die Unternehmenssteuerreform, die konsequente Haushaltskonsolidierung, das Mittelstandsentlastungsgesetz, das Infrastrukturplanungs-Beschleunigungsgesetz: das alles ist klassische CDU-Politik.
 
Bei der Gesundheitsreform haben wir die private Krankenversicherung als Vollversicherung behalten und wir bringen mehr Wettbewerb in das System durch Zu- und Abschläge.
 
Für meine Politik ist entscheidend: Was ist wichtig und richtig für Deutschland? Und die CDU kann sich mit dem, was wir getan haben, sehen lassen.
 
FAZ: War das Gleichbehandlungsgesetz richtig und wichtig für Deutschland? Es passt nur schwer mit Ihrem Motto "Mehr Freiheit wagen" zusammen.
 
Merkel: Ob das Gleichstellungsgesetz richtig oder nicht richtig ist, das wurde in Europa vor unserer Regierungszeit entschieden.
 
Ich hätte es insgesamt für nicht notwendig gehalten, denn es passt rechtssystematisch eigentlich nicht in unser bestehendes, seit dem Ende der siebziger Jahre stark ausgeweitetes Antidiskriminierungsrecht in Deutschland.
 
In dem ersten Entwurf war das Gleichbehandlungsgesetz leider nicht auf das Notwendige beschränkt und deshalb für die CDU und CSU nicht akzeptabel. Wir haben das jetzt in der verabschiedeten Version deutlich verbessert.
 
Aber wenn es um die zukünftige Rechtsetzung in der EU geht, dann würde ich sagen: Diese Thematik gehört nicht zum Kernbestand der Angelegenheiten, die von der EU geregelt werden müssen.
 
FAZ: Ist das Gleichbehandlungsgesetz nicht ein Beispiel dafür, dass Deutschland inzwischen mehr von Brüssel als von Berlin aus regiert wird?
 
Merkel: Deutschland wird nicht von Brüssel aus regiert. Aber es ist ein Beispiel dafür, dass man die Kompetenzen sehr genau abgrenzen muss.
 
Das ist ja ein Kernpunkt des Verfassungsvertrages und es gibt Richtlinien, die ich nicht für zwingend halte, auch wenn Brüssel dafür die Kompetenz hat. Man muss nicht zu allem ein Gesetz machen.
 
FAZ: Sie haben in diesem Jahr alle Höhen und Tiefen erlebt, auch was die Umfragen angeht. Zwei Drittel der Deutschen äußerten sich zum Jahrestag unzufrieden über die Arbeit der großen Koalition. Ist das ein gerechtes Urteil?
 
Merkel: Es ist erst einmal ein demoskopischer Befund. Wir haben den Menschen in diesem Jahr eine Menge zugemutet.
 
Wir haben um der Haushaltssanierung willen unpopuläre Steuererhöhungen beschlossen. Wir haben Steuervergünstigungen gestrichen. Wir sparen. Damit haben wir die Neuverschuldung im nächsten Jahr auf den niedrigsten Stand seit der Deutschen Einheit gebracht.
 
Aber vom Sparen sind immer Menschen betroffen. Wir haben den Bundesbeamten, um nur ein Beispiel zu nehmen, gesagt, dass sie in Zukunft 41 Stunden arbeiten müssen.
 
Wir haben den Beamten Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld gekürzt. Das ist unbeliebt. Ich kann auch nicht erwarten, dass jeder sofort den Vorteil einsieht, dass der Staat deswegen über Jahre weniger Schuldzinsen zu zahlen hat.
 
Wenn wir nur nach der Wetterfahne Politik machen würden, dann brauchte man uns nicht.
 
FAZ: Gibt es noch genügend Überstimmung in der Koalition, welche Projekte noch unbedingt angegangen werden müssen?
 
Merkel: Ja. Der Anspruch dieser Koalition reicht weiter als das, was wir beschlossen oder schon verwirklicht haben.
 
Mit der Hightech-Strategie und dem nationalen Integrationsplan, um nur zwei Beispiele zu geben, haben wir langfristige Konzepte angepackt, die jahrelang in Deutschland nicht grundsätzlich genug behandelt worden sind.
 
Oder die Frage unserer zukünftigen Energieversorgung: Unbeschadet der unterschiedlichen Meinung der Koalitionspartner über die Kernenergie machen wir jetzt ein weitreichendes Konzept entlang der Anforderungen Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Auswirkungen auf den Klimaschutz im europäischen Kontext bis zum Jahr 2020.
 
Ich kann das noch fortsetzen: erstmals seit vierzehn Jahren gibt es wieder ein Weißbuch für die Verteidigung.
 
Es gibt durch die Initiative von Wolfgang Schäuble in Deutschland zum ersten Mal einen strukturierten Dialog mit dem Islam.
 
Das heißt also, die große Koalition hat weiterführende Vorhaben auf den Weg gebracht, die für die Weichenstellung in unserer Gesellschaft von essentieller Bedeutung sind.
 
Auch die Föderalismusreform hätten wir ohne die große Koalition nicht geschafft.
 
Das verstehe ich darunter, wenn ich sage, dass wir mit dem Wahlergebnis verantwortlich umgehen und uns gemeinsam manche liegengebliebene große Aufgabe vornehmen.
 
FAZ: Am Sonntag beginnt der CDU-Parteitag in Dresden. Es gibt Stimmen in ihrer Partei, die das schlechte Wahlergebnis von 2005 mit der auf dem Leipziger Parteitag beschlossenen Linie verbinden. Ministerpräsident Rüttgers sprach von "Lebenslügen" der CDU. Soll Leipzig in Dresden korrigiert werden?
 
Merkel: Mit Sicherheit nicht. Die CDU hat drei Grundwerte: Freiheit, Gerechtigkeit und die aus dem christlichen Menschenbild folgende Solidarität.
 
Wir werden in der Grundsatzprogrammdiskussion natürlich wieder über die Interpretation und die Ausgestaltung dieser Grundwerte sprechen. Ich trete einer Diskussion, wir hätten die soziale Gerechtigkeit nicht ausreichend beachtet, entschieden entgegen.
 
Ich hänge eher der These an: Sozial ist, was Arbeit schafft. Soziale Gerechtigkeit muss sich an der Frage orientieren: Wie viele Menschen in diesem Land haben die Chance, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu erwirtschaften.
 
Wir müssen die Leistungsbereiten fördern, die Durchlässigkeit unserer Gesellschaft für sozialen Aufstieg durch Bildung und Leistung erhalten und Chancen für alle schaffen.
 
FAZ: Das hieß in der Lesart von Leipzig noch: Die Steuern, auch die Unternehmenssteuern, müssen kräftig gesenkt werden. Wir müssen Investitionsbereitschaft schaffen und dadurch Arbeitsplätze.
 
Merkel: Leipzig ist aus meiner Sicht wegweisend. In Leipzig haben wir viele Reformpläne fortentwickelt, die wir schon Ende der neunziger Jahre hatten.
 
Ich werde das auch in Dresden deutlich machen: Die Entkopplung der Arbeitskosten von den Lohnzusatzkosten und ein einfaches Steuersystem sind weiterhin unser Ziel.
 
Ob sich angesichts der desaströsen Haushaltslage, die wir 2005 vorgefunden haben und die wir erst in Ordnung bringen müssen, jeder Schritt so verwirklichen lässt wie geplant, wird sich zeigen.
 
Die Beschlüsse von Leipzig sind trotzdem richtig und unabdingbar. Sie bringen die CDU voran. Durch sie hatten wir beispielsweise wir Orientierungsmarken für die Verhandlungen über die Unternehmenssteuerreform und die Gesundheitsreform.
 
Dennoch werden wir in Dresden keine rückwärts gewandte Debatte führen. Jetzt geht es darum, den Blick auf das Ende dieses Jahrzehnts zu lenken und zu sagen: Was kommt als nächstes?
 
FAZ: Dennoch noch einmal kurz Vergangenheitsbewältigung, der die CDU aus dem Weg ging. War Leipzig schuld am Wahlausgang?
 
Merkel: Ich glaube, dass wir einen sehr ehrlichen Wahlkampf geführt haben. Wir haben zum Beispiel über die Mehrwertsteuererhöhung gesprochen.
 
Die Sozialdemokraten haben im Gegensatz dazu keinen Wahlkampf für die "Agenda 2010" geführt. Das war die Konstellation.
 
Das ändert nichts daran, dass die Grundausrichtung von Leipzig richtig war. Sie hat uns dann nach der Wahl auch in  den Koalitionsverhandlungen vorangebracht.
 
Und es schmerzt mich genauso wie meine Partei, dass wir zur Zeit keine Möglichkeit haben, die Steuern zu senken. Das hat wie gesagt mit der faktischen Lage des Haushalts nach sieben Jahren Rot-Grün zu tun und nicht damit, ob Leipzig richtig oder falsch war.
 
Wenn wir wieder finanzielle Spielräume haben, dann werden wir natürlich auch über die Entlastung der Bürger bei Steuern und Lohnzusatzkosten nachdenken.
 
FAZ: Der Vorstoß von Ministerpräsident Rüttgers zum Arbeitslosengeld hatte ein großes Echo innerhalb und außerhalb Ihrer Partei. Auch der Bundespräsident hat sich kritisch dazu geäußert.
 
Merkel: In der Sache halte ich den Antrag von NRW, der sich auf die bereits geltende Beschlusslage der CDU stützt, für richtig.
 
Zugleich gebietet es der Respekt vor dem Amt und dem Wort des Bundespräsidenten, darüber nun keine aufgeregte öffentliche Kontroverse auszutragen.
 
FAZ: Der Vorstoß von Rüttgers wurde aber doch als Versuch einer Kurskorrektur verstanden: weg von Leipzig, dafür wieder mehr Sozialstaats-CDU.
 
Merkel: Ich sehe das nicht so. Zum einen entspricht der Antrag von Jürgen Rüttgers, wie gesagt, der geltenden Beschlusslage unserer Partei, er steht in unserem Regierungsprogramm für den Wahlkampf 2005 und wir sind in der vergangenen Legislaturperiode im Bundestag dafür eingetreten.
 
Wir wissen, dass ältere Arbeitslose vielfach länger brauchen als Jüngere, um wieder in den Arbeitsmarkt hineinzukommen. Eine Staffelung beim Arbeitslosengeld gibt es deshalb im übrigen schon heute und das ganze ist kostenneutral.
 
Es handelt sich bei dem Antrag aus Nordrhein-Westfalen also nicht um eine Kurskorrektur der CDU. Zudem werden wir in Dresden auch Anträge haben, die die Wirtschaftskraft Deutschlands verbessern und die Voraussetzungen für mehr Arbeitsplätze schaffen.
 
Es macht doch unsere Identität als große Volkspartei aus, dass wir uns um diejenigen kümmern, die schwach sind oder Schwierigkeiten haben. Und auf der anderen Seite müssen wir immer wieder die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Leistungserbringer auch Leistungen erbringen können.
 
FAZ: Nicht alle Ministerpräsidenten der Union sind für den Antrag von Rüttgers.
 
Merkel: Warten Sie den Parteitag doch erst einmal ab. Im Übrigen wäre eine Volkspartei keine Volkspartei, wenn sie nicht Persönlichkeiten hätte, die unterschiedliche Sachverhalte mit unterschiedlichem Gewicht herausstellten.
 
Einerseits wird sehr gerne beklagt, alle Politiker seien im Grunde gleich. Und wenn es einmal unterschiedliche Akzente gibt, dann heißt es gleich: Streit! Das ist doch Unsinn.
 
FAZ: Es gibt also keinen grundsätzlichen Streit über die Richtung der CDU?
 
Merkel: Nein, aber es ist notwendig, eine engagierte Diskussion über die große Herausforderung zu führen, wie wir unsere sozialen Sicherungssysteme unter den Veränderungen der Globalisierung und der Demografie in Deutschland zukünftig ausgestalten wollen.
 
Was kann ich den Menschen in welchem Tempo zumuten? Diese Diskussion wird jetzt auch in der Programmkommission geführt.
 
Ich glaube, dass es dabei für keine lebendige Volkspartei gut ist, wenn die Parteivorsitzende schon "per ordre de mufti" festlegt, wo die Diskussion endet, noch bevor sie begonnen hat.
 
Wenn wir dieses Diskussion nicht mehr haben, dann können wir einpacken. Dann sind wir erstarrt.
 
FAZ: Also in Dresden wird nichts von Leipzig zurückgenommen?
 
Merkel: Dresden soll und wird auf dem Fundament aufbauen, das wir haben. Darin ist Leipzig ein ganz dicker Stein.
 
Ich werde in Dresden deutlich machen: Wir haben uns bis jetzt sehr mit der Frage beschäftigt, wie wir national agieren können.
 
Wir werden in Zukunft noch stärker darauf schauen müssen, was jenseits unserer Grenzen geschieht, ob es um die Energieversorgung geht, das Welthandelsabkommen oder unsere Interessen in Sicherheitsfragen.
 
Das sind keine Fragen einer abgehobenen Außenpolitik, sondern es geht im Kern um die Frage: Wie können wir unsere Art zu leben, unsere Werte, auch in Zukunft in einer immer stärker zusammenwachsenden globalen Gesellschaft wahren und unsere vitalen Interessen durchsetzen?
 
FAZ: In Deutschland geht die Angst um: vor mehr Reformen, vor den Auswirkungen der Globalisierung. Was können Sie dagegen tun?
 
Merkel: Die Menschen akzeptieren Veränderungen, wenn sie den Sinn erkennen können und verstehen. Das ist besonders der Fall, wenn eine Veränderung mit einer Verheißung verbunden ist.
 
Es ist zudem wichtig, wie wir über die Änderungen sprechen, auch der Ton – ob ermutigend oder entmutigend - macht die Musik. Und es ist wichtig, wer von der Notwendigkeit einer Änderung spricht.
 
Das ist bei grundlegenden Zäsuren die Chance der großen Koalition: Wenn zum Beispiel eine "kleine" Koalition die Verschiebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre beschlossen hätte, dann wäre das viel schwerer vermittelbar gewesen. Dass sich die FDP zu diesem Schritt nicht bekannt hat, ist bedauerlich.
 
Aber die gesamtgesellschaftlichen Proteste gegen unseren Beschluss halten sich in Grenzen, weil die Menschen sagen: Okay, wenn es darüber keinen Parteienstreit zwischen den großen Koalitionsparteien gibt, dann ist das wohl ein unvermeidlicher Schritt.
 
Ich sehe es als eine gute demokratische Tradition an, das, was unabdingbar für ein Land ist, mitzutragen und nicht aus bloßer Opposition heraus zu bekämpfen.
 
Deshalb sind die Hartz-Reformen seinerzeit auch im Bundesrat von uns mitgestaltet worden, weil die CDU eine verantwortliche Oppositionspolitik gemacht hat.
 
Wir haben immer gesagt: Wenn die Vorteile überwiegen, müssen wir das machen.
 
FAZ: Doch wie überzeugen Sie jene von den langfristigen Vorteilen Ihrer Reformpolitik, die kurzfristig nur Einschnitte sehen? Einem 55 Jahre altem Hartz-IV-Empfänger können Sie das ...
 
Merkel: ... mit Hilfe seiner Kinder und Enkel erklären.
 
FAZ: Wenn er aber keine Kinder hat, was immer häufiger der Fall ist, wird es schwierig.
 
Merkel: Das ist richtig. Es gibt auch Befürchtungen, dass Ältere sagen könnten: "Wir stellen die meisten Wähler. Keine Veränderungen für uns."
 
Insofern ist der demographische Wandel in jeder alternden Gesellschaft eine Herausforderung, bei der wir auch an die Verantwortung des einzelnen appellieren müssen.
 
Ich bin froh, dass die meisten Menschen anerkennen, dass wir nicht auf Kosten der Zukunft und der jungen Generation leben dürfen.
 
Es ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig, dass wir heute angesichts der verbesserten Wirtschaftslage und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit den Menschen sagen können: Das, was in den vergangenen Jahren an Reformen gemacht wurde, zeigt seine Wirkung. Wenn wir weiter machen, wird es auch weiter Wirkung zeigen.
 
Auf die Weltwirtschaft haben wir zwar weiterhin nur einen sehr bedingten Einfluss, aber wir sehen einen Erfolg unserer Reformen.
 
FAZ: Bisher hieß es bei jeder Diskussion zum Thema Globalisierung: Es gibt veränderte Wettbewerbsbedingungen, und deswegen müssen wir uns ändern. Es gibt auch das Argument, dass wir andere Wettbewerbsregeln in der Welt durchsetzen müssen. Und es gibt den Standpunkt: Wir schotten uns einfach von der Welt ab.
 
Merkel: Protektionismus schließe ich entschieden aus. Weil wir eine Exportnation sind, aber auch von unseren Werten her.
 
Irgendwann kommt die Probe aufs Exempel, ob unsere Sonntagsreden auch unserem Tun entsprechen. Insofern ist es Eigeninteresse, aber es hat auch etwas mit dem Verständnis der Freiheit und der grundlegenden Werte zu tun, die wir verfolgen.
 
Ich glaube aber, dass wir uns ändern müssen und dass auch die anderen bestimmte Regeln einhalten müssen.
 
Wir brauchen einen fairen Ordnungsrahmen im globalen Wettbewerb. Ansonsten wird diese Welt sehr unerquicklich werden.
 
Ich nehme einmal ein Beispiel, das uns in der G8-Präsidentschaft beschäftigen wird, nämlich den Umgang mit Rohstoffen in Afrika.
 
Wenn wir tatenlos zusehen, wie afrikanische Länder durch problematische Verträge um ihren natürlichen Reichtum gebracht werden, dann verlieren diese Länder wichtige Entwicklungschancen. Wir in Europa bekommen das dann als Migration zu spüren.
 
Hier muss ich auch Verhaltensänderungen bei anderen einfordern und internationale Abkommen anstreben. Partnerschaft und Zusammenarbeit werden in einer zusammenwachsenden Welt immer wichtiger.
 
Von der Genfer Flüchtlingskonvention bis hin zum UN-Sicherheitsrat hat die Welt sich in der Vergangenheit auf viele Dinge geeinigt, weil sie verstanden hat, was gegen die Interessen aller geht und immer neue Konflikte heraufbeschwört.
 
Wenn sich die zivilisatorische Erfindung des Patents oder der Respekt vor dem geistigen Eigentum eines anderen nicht weltweit durchsetzt, dann würde das Stehlen von Know-how sozusagen zum Prinzip erhoben.
 
Das können wir nicht zulassen. Deshalb müssen wir uns aus unserem wohlverstandenen Interesse für weltweite Standards einsetzen.
 
Das ist mühselig und dauert lange. Doch beispielsweise mit China führen wir hier sehr konstruktive Gespräche. Sobald sich ein Land entwickelt, gibt es ein größeres Interesse zum Schutz der eigenen Entwicklungen und Erfindungen und damit des geistigen Eigentums. Deshalb bin ich da gar nicht so pessimistisch.
 
FAZ: Was sind Ihre zentralen politischen Projekte für das Jahr 2007?
 
Merkel: Sie haben bereits begonnen oder sind in der Vorbereitung: die Pflegeversicherung, die sicherlich noch schwierige Umsetzung der Unternehmenssteuerreform und der Abschluss der Föderalismusreform II, also der Bund-Länder-Finanzverfassung.
 
Die Novellierung des Gentechnikgesetzes halte ich für sehr wichtig. Die Energiepolitik habe ich bereits genannt, also die Fragen des künftigen Energiemix, der Importabhängigkeit, CO2-Emissionen, des Wettbewerbs auf dem Energiemarkt und der europäischen Vernetzung.
 
Die Gesetzgebung zur Anti-Terror-Datei muss kommen. Ich finde es gut, dass man die Flüchtlings- und Bleiberechtsregelung jetzt angepackt hat, selbst wenn dabei Differenzen auszutragen sind. Aber es geht voran.
 
FAZ: Sie haben eben das Gentechnikgesetz erwähnt. Das ist ein Projekt mit einer wirtschaftlichen Seite. Aber da könnte es auch wieder einen Konflikt mit den Grundwerten der CDU geben.
 
Merkel: Beim Gentechnikgesetz geht es um den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen. Es gibt große Vorbehalte bei vielen Menschen, bei den Kirchen, auch bei denen, die sich dem Schutz der Natur verbunden fühlen.
 
Ich glaube, dass wir deutlich machen müssen, dass es hier nicht um den Konsum von gentechnisch veränderten Lebensmitteln geht. Solche Veränderungen werden in Deutschland auf hohe Barrieren stoßen.
 
Wir reden vor allem über nachwachsende Rohstoffe, über alternative Energien, also Biomasse, über neue Werkstoffe. Wir reden über den Chemiestandort Deutschland. Für die ganzen chemischen enzymatischen Reaktionen braucht man die so genannte weiße Gentechnik.
 
Wenn wir nicht bereit sind, das auch bei uns zuzulassen, dann werden Forschungsstandorte weggehen und schließlich auch die Produktionsstandorte wegfallen. Das wäre für Deutschland ein großer Nachteil.
 
FAZ: Wird es auf dem Parteitag Diskussionen über die Außen- und Sicherheitspolitik geben? Auch in der Unionsfraktion nehmen die Sorgen über Afghanistan zu.
 
Merkel: Wir haben sehr bewusst einen außenpolitischen Antrag für diesen Parteitag vorbereitet, weil Deutschland durch die EU-Präsidentschaft und die G8-Präsidentschaft nächstes Jahr auch eine vermehrte internationale Verantwortung haben wird.
 
Es wäre falsch, nicht die ganze Partei dabei mitzunehmen: Wir leisten unser Engagement nicht nur im militärischen, sondern insgesamt im außenpolitischen Bereich.
 
Das muss auch von der Erkenntnis der Bevölkerung getragen werden, dass ihre Interessen nicht mehr allein in Deutschland gesichert werden können.
 
Zu Afghanistan: Natürlich ist diese Mission für die Nato entscheidend. Jeder, der daran teilnimmt, will diese Mission zum Erfolg führen.
 
Ich plädiere seit längerem dafür, dass die Nato sich nicht nur auf das rein Militärische konzentriert, sondern dass wir sie als Forum auch für politische Diskussion brauchen.
 
Wir brauchen also die militärische Komponente, die Stärkung der Institutionen in Afghanistan, die Entwicklungshilfe. Wir brauchen die Stärkung der inneren Sicherheit in Afghanistan, etwa den Aufbau einer leistungsfähigen Polizei.
 
Wir werden nächste Woche in Riga beim Nato-Gipfel eine umfassende Diskussion darüber führen, wie wir mit einem vernetzten Ansatz neben der notwendigen Bekämpfung der Taliban beim Aufbau voran kommen können.
 
FAZ: Ist Ihre Partei davon überzeugt, dass die Sicherheit und Freiheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt wird?
 
Merkel: Sie wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt. Ich glaube, dass ein großer Teil meiner Partei davon wie ich überzeugt ist.
 
Die Erfolge im gesamten Afghanistan sind im Augenblick nicht so, wie wir uns das wünschen würden.
 
Sollen wir nun umdrehen und wegrennen? Nein, denn das hielte ich für das Allerschlimmste, was wir machen können.
 
Wir haben in diesem Herbst in der Bundesregierung einen Afghanistan-Bericht verabschiedet, in dem wir nüchtern die Lage vor allem in dem Bereich, in dem wir operieren, analysiert haben. Allein die militärische Komponente wird uns in Afghanistan nicht zu dem Ziel bringen, das wir anstreben.
 
FAZ: Würden Sie den Satz "Die Nato darf in Afghanistan auf keinen Fall scheitern" unterschreiben?
 
Merkel: Wir werden alles daran setzen, dass sie nicht scheitert.
 
FAZ: Auch die Amerikaner wollen seit drei Jahren im Irak nicht scheitern.
 
Merkel: Die Situation ist nicht vergleichbar. Die Amerikaner haben die Baker-Kommission eingesetzt, deren Ergebnisse in den Vereinigten Staaten sicher intensiv erörtert werden.
 
Generell gilt für die veränderte Sicherheitslage in der Welt:  Wir alle haben nach dem 11. September ganz neue Aufgaben bekommen.
 
FAZ: Die Amerikaner und Briten erheben die Forderung, Deutschland solle sich militärisch im Süden engagieren. Wie lange werden Sie sich diesem Drängen widersetzen können?
 
Merkel: Ich sehe zunächst nicht, dass Deutschland in besonderer Weise angesprochen ist.
 
Wir haben ein wichtiges Engagement im Norden Afghanistans, in dem 40 Prozent der Afghanen leben. Unsere Soldaten werden dort gebraucht.
 
Niemand kann ein Interesse daran haben, dass neben den massiven Problemen im Süden neue Probleme im Norden entstehen.
 
Deshalb werden wir auf der Grundlage unseres klaren Mandates weiter arbeiten. Wir werden weiter in Notsituationen tun, was im Rahmen des Mandates des Deutschen Bundestages auch möglich ist.
 
Ich werde aber energisch Versuchen entgegentreten, die Missionen in Afghanistan in wichtige, weil gefährliche, und unwichtige, weil vermeintlich ungefährliche, einzuteilen.
 
Deutschland ist der drittgrößte Truppensteller in Afghanistan, insgesamt sind wir der zweitgrößte Truppensteller bei internationalen Missionen.
 
FAZ: Wenn Sie die deutschen Soldaten aus dem Norden nicht abziehen wollen: Müssen sich dann nicht andere Staaten stärker im Süden engagieren?
 
Merkel: Ich werde an den Diskussionen auf dem Nato-Gipfel teilnehmen. Ich denke dass wir, neben der Frage der militärischen Verstärkung, uns auch mit den anderen Komponenten befassen.
 
Für den Aufbau des Landes müssen wir auch andere Akteure einbinden. Die Nato-Partner müssen eine gemeinsame Analyse vornehmen und dann gemeinsame Schritte beschließen.
 
Der politische Ansatz muss wieder in den Vordergrund rücken.
 
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