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Merkel über G8: "Bis zur letzten Minute ringen"

Mo, 04.06.2007
Mit dem Spiegel sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel wenige Tage vor dem G8-Gipfel über Protestkultur, Klimaschutz und die wieder wachsenden Spannungen zwischen Russland und den USA.


Das Interview im Wortlaut:

Spiegel: Frau Bundeskanzlerin, Stacheldrahtverhaue und ein meterhoher Zaun. Drinnen reden die Mächtigen, draußen sind 16.000 Polizisten aufmarschiert. Kosten von über hundert Millionen Euro werden verbucht. Stehen Aufwand und Ertrag bei dem G-8-Gipfel in Heiligendamm noch in einem vernünftigen Verhältnis?

Angela Merkel: Es gibt Begleiterscheinungen eines solchen Spitzentreffens, das gebe ich gern zu, die auch mich nicht erfreuen. Auf der anderen Seite ist es leider so, dass Sicherheitsvorkehrungen notwendig sind.

Spiegel: Die Menschen versammeln sich, um lautstark zu protestieren - gegen diesen Gipfel und gegen die herrschende Politik.

Merkel: Ich nehme das differenzierter wahr. Die Grundstimmung des größten Teiles der Demonstranten hat sich doch längst gewandelt: Sie ist nicht nur verneinend oder gar ablehnend, sondern konstruktiv.
 
Es gibt ein Höchstmaß an öffentlicher Aufmerksamkeit für den Prozess der Globalisierung, für die Chancen und damit verbundenen Risiken für den Afrika-Schwerpunkt des Gipfels und den Schutz des Weltklimas.
 
Das empfinde ich als eine fruchtbare, weil notwendige Diskussion. Die Politik darf sich nicht abschotten, wenn sie in die Gesellschaft hineinwirken will, und sie muss offen für Kritik sein. Deshalb ist jeder Beitrag willkommen.

Spiegel: Aber muss man sich für diese Diskussion derart verschanzen? Einer Ihrer Vorgänger im Amt, Helmut Schmidt, fragt an, ob ein solcher Weltwirtschaftsgipfel nicht besser in einem Golfhotel oder auf einer abgelegenen Insel wie Helgoland zu veranstalten wäre.

Merkel: Die Frage ist legitim. Man kann natürlich in immer einsamere Gefilde ausweichen. Man kann auch sagen, wir treffen uns nur noch im Uno-Hauptquartier in New York, weil man dort an derartige Veranstaltungen gewöhnt ist.
 
Doch ich würde das als weitaus künstlicher empfinden. Ich bin für Landberührung, auch in der Nähe derer, die demonstrieren.

Spiegel: Wird es zu einem Gespräch zwischen der Gipfelgastgeberin und den Menschen vor dem Zaun kommen?

Merkel: Ich werde sicher nicht auf die Demonstration gehen.

Spiegel: Aber werden Sie das Tor öffnen und eine Abordnung der Protestler empfangen und anhören?

Merkel: Ich habe bereits in den vergangenen Wochen vor Heiligendamm viele Gespräche geführt mit Globalisierungskritikern, Künstlern, Menschenrechtlern, Gewerkschaftern und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen. Viele dieser Menschen hätte ich ohne diesen Gipfel nie getroffen. Ich habe einige dieser Begegnungen als ausgesprochen wertvoll erlebt.

Spiegel: Seit Monaten bereiten hunderte Beamte diesen Gipfel vor. Alles ist gesagt und aufgeschrieben. Welchen politischen Spielraum besitzt da noch die deutsche G-8-Vorsitzende?

Merkel: Es gibt in der Tat Teile des Konferenzprogramms, die praktisch verhandelt sind: zum Beispiel das Thema Hedgefonds.
 
Hier hätte ich mir zwar noch mehr Transparenz und Ehrgeiz zur Selbstregulierung gewünscht, um die Risiken für das weltweite Finanzsystem zu begrenzen, aber wir werden diese Frage auf der G-8-Tagesordnung halten, auch noch unter deutscher Präsidentschaft bis Ende 2007.
 
Da haben die Finanzminister vor Heiligendamm das jetzt Mögliche erreicht. Da einer der Kollegen bald Premierminister sein wird, nämlich Gordon Brown in Großbritannien, ist es ist nicht zu erwarten, dass er in seinem neuen Amt eine andere Meinung äußern wird. Das Thema wird künftig auf der internationalen Agenda bleiben müssen.

Spiegel: Wie sieht es bei dem durchaus ehrgeizigen Klimaziel aus, den Temperaturanstieg auf der Erde bis zum Jahr 2050 auf zwei Grad zu begrenzen. Lässt US-Präsident George W. Bush noch mit sich reden?

Merkel: Beim Klimaschutz wird bis zur letzten Minute gerungen. Gehen Sie davon aus, dass ich mich nicht darauf einlassen werde, dass gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse wie etwa die des IPCC-Berichts der Vereinten Nationen verwässert werden.

Spiegel: Das Besondere dieses Ringens ist doch die Tatsache, dass Ihr politischer Freund Bush in diesem Fall Ihr Gegenspieler ist. Was erwarten Sie von ihm?

Merkel: Wir werden mit allen Partnern sehr konstruktive Gespräche haben, und dabei wird niemand in der Ecke stehen. Im Übrigen bewerte ich es als Fortschritt, dass die USA anerkennen, dass der Klimawandel ein im Wesentlichen auch vom Menschen verursachter Prozess ist.
 
Unterschiedliche Ausgangspositionen haben wir seit längerem, wenn es darum geht, wie sich die Erderwärmung begrenzen lässt. Amerika will verstärkt neue Techniken und neue Biokraftstoffe nutzen und so testen, wie stark sich der CO2-Ausstoß verringern lässt.
 
Wir Europäer finden es überzeugender, als Motor der Veränderung ehrgeizige Ziele international zu verabreden und abgestimmt unsere Maßnahmen entsprechend auszurichten.
 
Dennoch glaube ich, dass wir unsere Anstrengungen gemeinsam unter dem Dach der Uno bündeln können.

Spiegel: Bush droht mit einer Alternativveranstaltung zum Kyoto-Prozess, also einer Konferenz jener Länder, die gemächlicher voranschreiten wollen. Ist das nicht ein Affront für Deutschland?

Merkel: Ich interpretiere das nicht so. Für mich ist klar: Wir müssen es schaffen, in einem Prozess, der von den Vereinten Nationen geleitet wird, eine Nachfolgeregelung für das Kyoto-Abkommen, das 2012 endet, zu erreichen.
 
Es wird sicher auch schon vorher unterschiedliche Treffen und Initiativen geben, die können sogar nützlich sein. Wichtig ist aber, dass sie in einen Uno-Prozess münden müssen. Das ist für mich nicht verhandelbar.

Spiegel: Es darf also keine Parallelveranstaltungen zu Kyoto geben?

Merkel: Wir sind nicht am Ende der Gespräche. Ich bin guten Mutes, dass wir noch Bewegung in den Verhandlungen sehen werden.

Spiegel: Sind Sie auch guten Mutes, dass man sich in Heiligendamm auf das Zwei-Grad-Ziel einigt?

Merkel: Ich glaube, das wird sehr schwierig, und das liegt keineswegs nur an den Amerikanern. Wenn die Vereinigten Staaten sich nicht bewegen, werden andere möglicherweise auch erst mal abwarten.
 
Ich rechne hier eher nicht mit einer Lösung schon in dieser Woche. Es wird ein dickes Brett sein, das wir geduldig durchbohren müssen.
 
Wir Europäer haben hier eine klare Position. Ich habe seit über zehn Jahren mit Leidenschaft für den Klimaschutz gekämpft und erlebe das von Anfang an als zähes Ringen.
 
Das ist kein Terrain für schnelle Siege. Aber wir kommen Schritt für Schritt voran.

Spiegel: Würde ein Scheitern auch das transatlantische Verhältnis belasten?

Merkel: Das freundschaftliche Verhältnis zu den Amerikanern bedeutet, dass man in einzelnen Sachfragen auch unterschiedlicher Meinung sein darf und das ansprechen kann.
 
Der amerikanische Präsident sagt mir zum Beispiel, dass er die deutsche Haltung zur Kernenergie nicht besonders zukunftsweisend findet.
 
Ich ermuntere ihn auf der anderen Seite, wie übrigens alle anderen Industriestaaten auch, mutig zu sein, voranzugehen mit konkreten Klimaschutzzielen. Wir haben gegenüber den Schwellenländern eine Vorbildfunktion.

Spiegel: Europäer und Amerikaner sind sich zumindest in einem Punkt einig, nämlich dass die Verbrennung von fossilen Brennstoffen reduziert werden muss. Die einen, weil sie sich um die Knappheit dieser Brennstoffe sorgen, die anderen, weil sie die Auswirkungen einer weiter wachsenden Verbrennung von Rohstoffen fürchten. Warum reicht dieses Grundeinverständnis nicht aus für eine gemeinsame Klimaschutzpolitik?

Merkel: Ich sehe zunächst, dass ein Umdenken stattgefunden hat. Ob man es mit dem Klimawandel begründet oder mit der wachsenden Abhängigkeit von Öl- und Gaslieferungen aus instabilen Weltregionen - immer ist der Punkt erreicht, an dem man für mehr Energieeffizienz und für größere Unabhängigkeit von Importen eintritt.
 
Vor zwei Jahren wäre es doch noch undenkbar gewesen, dass der amerikanische Präsident verkündet, 20 Prozent herkömmlicher Kraftstoffe bis 2020 unter anderem durch Bio-Treibstoffe zu ersetzen.

Spiegel: Werden Sie am Ende statt zwei Grad großzügig sagen: "Vier Grad Erderwärmung sind auch schon ein schönes Ziel"?

Merkel: Nein. Das wäre für mich genau das, was ich als "faulen Kompromiss" bezeichnen würde. Wir sollten uns - wie gesagt - an den Erkenntnissen der Wissenschaftler orientieren und diese Erkenntnisse nicht aufweichen.

Spiegel: Es wird darüber also keine Tarifverhandlungen geben?

Merkel: Nein. Verhandlungen gibt es nur darüber, wie man den Prozess fortsetzen kann, um das Richtige zu tun. Darüber kann man Kompromisse finden und Zwischenschritte definieren. Aber über die zwei Grad kann ich nicht verhandeln.

Spiegel: Das heißt, Sie werden möglicherweise auch Dissens feststellen?

Merkel: Es wird Dinge geben, die im Dokument stehen, und es wird Dinge geben, die nicht explizit im Dokument stehen. Aus der Tatsache, dass manches möglicherweise nicht im Dokument steht, wird man sehen, dass es dazu unterschiedliche Meinungen gibt.
 
Es ist doch selbstverständlich, dass ich für unseren europäischen Ansatz, von dem ich überzeugt bin, werben werde.

Spiegel: Am Ende werden nicht Sie es sein, die 2050 feststellen wird, ob das Klimaziel erreicht worden ist. Ist es nicht sehr virtuell, jetzt Ziele zu verabreden, deren Einhaltung erst in 43 Jahren zu kontrollieren sind?

Merkel: Wir brauchen verbindliche Langfristziele, die dann wiederum dazu dienen, über Jahre hinweg jeweils eine konkrete Tagespolitik zu formulieren.

Spiegel: Diese Langfristziele sind auch beim Thema Afrika oft schon definiert und genauso oft unterboten worden. Die Kritiker dieser Art Gipfelzeremonie können einem vorrechnen, dass die ganzen Finanzverpflichtungen, die die Industriestaaten beim letzten Weltwirtschaftsgipfel übernommen haben, nicht eingehalten worden sind.

Merkel: Für die deutsche Seite kann ich nur sagen: Der Entwicklungsetat ist der Etat, der unter allen Ressorts am stärksten wächst. Allerdings will ich schon noch einmal darüber reden, was denn ein wirklich sinnvoller Beitrag für Afrika ist.
 
Was müssen die dortigen Regierungen selbst leisten? Welche Hilfen wirken nachhaltig, zum Beispiel für den Aufbau von Schulen, Krankenhäusern oder für demokratische Institutionen?
 
Zählen auch die Einsätze der Bundeswehr, etwa zur Absicherung freier Wahlen wie im Kongo, zu den Hilfsmaßnahmen?

Spiegel: Wäre es nicht langsam an der Zeit, die Entwicklungshilfe für China nach Afrika umzuleiten?

Merkel: Wir geben nur noch einen ganz geringen Anteil unserer Entwicklungshilfe für China aus, und zwar nur in den Bereichen Klima und Umweltschutz.
 
Wir versuchen also, an einer Stelle, die vor allem unseren eigenen Interessen dient, Unterstützung zu geben. Ansonsten braucht China in der Tat unsere Entwicklungshilfe nicht.

Spiegel: Wird der Atomkonflikt mit Iran beim Gipfel eine Rolle spielen?

Merkel: Iran wird mit Sicherheit ein Thema sein. Der eigentliche Prozess findet in der Uno statt, aber zur Vorbereitung wird man in Heiligendamm Gespräche führen.

Spiegel: Werden dabei auch härtere Wirtschaftssanktionen gegen das Mullah-Regime besprochen?

Merkel: Über beides wird geredet: Über Wirtschaftssanktionen und auch immer wieder über die Erneuerung der Gesprächsangebote, die wir sehr ernsthaft unterbreitet haben.

Spiegel: Iran hat Interesse am Transrapid geäußert. Es gibt erste Gespräche mit der deutschen Industrie. Halten Sie es für eine gute Idee, Teheran technologisch derart unter die Arme zu greifen?

Merkel: Um es deutlich zu sagen: Nein. Ich halte deutsche Hilfe beim Bau des Transrapids in einem Land, dessen Präsident unentwegt verkündet, dass er Israel vernichten will, für völlig inakzeptabel.

Spiegel: Es gibt zurzeit eine große Verstimmung zwischen Amerika und Russland. Der Gipfel ist auch eine Gelegenheit, dass Wladimir Putin und Bush wieder miteinander reden. Werden Sie versuchen, zwischen den beiden zu vermitteln?

Merkel: Ich begrüße sehr, dass der russische Präsident Anfang Juli nach Amerika reist. Ich fand es gut, dass der amerikanische Verteidigungsminister in Moskau war. Ich glaube, die beiden brauchen keinen Mediator, sondern sind Manns genug, die Dinge selbst miteinander zu besprechen.

Spiegel: Amerika nennt die Bedenken der Russen gegenüber dem geplanten Raketenabwehrschirm "lächerlich". Putin dagegen macht seinerseits starke Sprüche. Was sind Ihre Erwartungen an die beiden Streithähne?

Merkel: Ich erwarte das, was man von uns allen erwartet, nämlich dass jeder seiner Verantwortung gerecht wird. Und dazu gehört, dass man miteinander im Gespräch bleibt, und genau das passiert ja.
 
Alles, was nicht miteinander besprochen wird, schürt Verstimmungen. Dass alle Akteure durchaus klare Worte benutzen, verschärft die Konflikte aus meiner Sicht nicht. Es macht sie sichtbarer, aber es verschärft sie nicht.

Spiegel: Das klingt sehr sozialpädagogisch: Jeder redet mit jedem, Dialog als Selbstzweck. Aber wo ist Ihre Position in Sachen Raketenabwehrschirm? Putin will ja nicht nur reden, sondern er möchte ihn auf keinen Fall haben.  Die Amerikaner wollen nicht nur reden, sondern erklären diese Abwehrtechnologie für nicht verhandelbar.

Merkel: Dass wir sehen, von wem tatsächlich die Bedrohungen ausgehen. Als Deutsche müssen wir ein Interesse daran haben, uns gegen Bedrohungen und Gefährdungen angemessen abzusichern.
 
Ich halte Iran, aber auch andere Länder für eine potentielle Bedrohung. Angesichts des Verhältnisses zu Russland nach Ende des Kalten Krieges setze ich aber bei allen Überlegungen auf Kooperation.
 
Klar ist: Diese Systeme sind nicht gegen Russland gerichtet. Die Russen sollten und müssten in das Projekt am besten einbezogen werden.

Spiegel: Was heißt "einbeziehen"?

Merkel: Einbeziehen heißt für mich, dass man nicht nur informiert, sondern dass man kooperiert. Man könnte zum Beispiel versuchen, bestimmte technische Komponenten gemeinsam zu machen, man könnte Tests sehr transparent durchführen, Daten austauschen.
 
Ich plädiere für mehr Kooperation zum Abbau von Missverständnissen und Vorurteilen.

Spiegel: Amerikaner und Russen streiten auch um das Kosovo. Die Amerikaner wollen das Gebiet möglichst schnell in die Unabhängigkeit von Serbien entlassen, die Russen sind strikt dagegen. Im Grunde sind diese Positionen unüberbrückbar. Haben Sie eine Kompromiss-Idee?

Merkel: Es ist gut möglich, dass dieses Problem in Heiligendamm eines der wichtigen Themen in der außenpolitischen Diskussion wird. Die Kosovo-Frage beschäftigt Russland sehr.
 
Wir müssen es schaffen, in eine Diskussion darüber zu kommen, welche Spielräume es noch gibt. Die Positionen sind ja nicht nur zwischen den USA und Russland kontrovers, sondern auch zwischen der EU und Russland.
 
Ich glaube, es ist Eile geboten. Wir müssen bald entscheiden.

Spiegel: Auf dem Gipfel?

Merkel: Nein. Das ist nicht unser Ziel. Aber der Zeitpunkt der Entscheidung rückt näher.

Spiegel: Die Gruppe der acht sieht sich als eine Art Wertegemeinschaft. Russland ist dabei, und gleichwohl werden dort kritische Journalisten ermordet, eine unabhängige Presse gibt es kaum noch, Oppositionelle werden brutal am Demonstrieren gehindert. Gehört Russland noch zum Club der demokratischen Industriestaaten?

Merkel: Russland gehört auf jeden Fall zu den G-8-Staaten. Dass wir bestimmte Dinge kritisch bewerten, habe ich bereits deutlich gemacht. Russland ist völlig unbestritten einer der entscheidenden Akteure auf der internationalen Bühne, eine wichtige ökonomische Macht, eine wichtige Rohstoffmacht.
 
Bei allen vorhandenen Meinungsverschiedenheiten in bestimmten Sachfragen finde ich es sehr wichtig, dass der russische Präsident Teilnehmer des G-8-Gipfels ist.

Spiegel: SPD-Fraktionschef Peter Struck hat den Deutschen eine "Äquidistanz", also das gleiche Maß an Nähe und Distanz, zu den USA und Russland empfohlen.

Merkel: Wir haben mit Russland eine strategische Partnerschaft, die wir durchaus intensivieren wollen, aber die transatlantische Wertegemeinschaft ist für mich nach wie vor etwas sehr Besonderes. Sie hat sich über viele Jahrzehnte hinweg entwickelt.
 
Wir sind aber kein geschlossener Club. Wenn sich Gemeinsamkeiten mit anderen Ländern verstärken, dann dürfen und wollen wir nicht aus prinzipiellen Gründen die Tür zumachen.

Spiegel: Sind Amerikaner und Deutsche Freunde, während sich Russen und Deutsche vor allem als Partner verstehen?

Merkel: Wir haben, was die politischen Strukturen Russlands und Europas anbelangt, größere Unterschiede als zwischen Europa und Amerika. Ich glaube im Übrigen, das wird auch vom russischen Präsidenten so gesehen.

Spiegel: Angesichts dieser Diskussionen: Was haben Sie in den vergangenen Monaten über die Kräfte, die diese EU und dieses Europa zusammenhalten, gelernt? Sind die inneren Kräfte stark genug, dass man von den Vereinigten Staaten von Europa träumen darf, ohne ein Fantast zu sein?

Merkel: Seien wir realistisch. Wir brauchen jetzt nicht von den Vereinigten Staaten von Europa zu träumen.
 
Ich habe in meiner Politik auch während der EU-Ratspräsidentschaft immer versucht, dass die Gemeinsamkeit und der Zusammenhalt der Europäischen Union nach außen deutlich wird, und alle Versuche abgewehrt, die EU zu spalten.
 
Unser Interesse ist am besten gewahrt, wenn wir uns nicht aufspalten lassen, wenn wir unsere Interessen, vom Klimaschutz über die Verhandlungen der Welthandelsorganisation bis hin zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik, eng abstimmen und dann geschlossen auftreten.
 
Für mich ist der Weg der europäischen Einigung alternativlos.

Spiegel: Treffen Sie denn, wenn Sie mit den Staats und Regierungschefs reden, auf überzeugte Europäer? Oder sind darunter allzu viele - Frankreichs neuer Präsident Nicolas Sarkozy und andere, die in Wirklichkeit Nationalisten geblieben sind, die nur gelernt haben, mittlerweile auch europäisch zu argumentieren?

Merkel: Die Europäische Union ist kein Staat, aber wir alle haben gemeinsame europäische Interessen. Natürlich haben wir auch weiterhin deutsche Interessen, die Franzosen haben französische Interessen, und die Polen haben polnische Interessen.
 
Ich kann nur alle ermuntern, in dieser Interessenabwägung nicht zu verzagt zu sein. Europa muss heute bei den entscheidenden, den großen Fragen solidarisch sein und dabei nationale Anliegen und Befindlichkeiten auch mal zurückstellen. Sonst wird Europa nicht funktionieren. 
 
Das Interview führten Stefan Aust, Konstantin von Hammerstein, Gabor Steingart.