am 24. Januar 2007 in Davos
Sehr geehrte Frau Bundespräsidentin,
sehr geehrter Herr Professor Schwab,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren!
Herzlichen Dank für die Einladung in diesem Jahr. Das Leitthema des Forums, "The Shifting Power Equation", bringt, so glaube ich, die globale Situation auf den Punkt: Die Weltwirtschaft befindet sich in einem unglaublichen Wandlungsprozess, vieles wird umgewälzt, was wir lange Zeit für völlig unverrückbar gehalten haben. Wir sollten uns immer wieder klar machen: Es sind gleich drei historische Ereignisse innerhalb von wenig mehr als 15 Jahren, die diese Entwicklung ausgelöst haben: Erstens der Fall der Mauer und die Wiedereingliederung Mittel- und Osteuropas sowie Russlands in die Weltwirtschaft, zweitens die technologische Revolution bei Information und Kommunikation – überlegen wir uns nur einmal, dass sich die Zahl der verschickten E-Mails seit 1997 bis zum Jahr 2005 um den Faktor 215 vervielfacht hat –, und drittens der Wechsel Chinas, Indiens und anderer Länder von den statischen zu den dynamischen Volkswirtschaften und ihre sprunghafte Integration in die globalen Märkte. Allein dadurch wird ein Drittel der Weltbevölkerung vom Zuschauer auf der Weltbühne zum Mitspieler.
Das heißt: Die Perspektiven ändern sich. Wir, die angestammten Spieler, sagen dazu: Es wird unübersichtlicher. Die neuen Akteure sagen: Es wird chancenreicher. Wahr ist: Es entsteht ein völlig neues globales Kräfteverhältnis. Das Gute daran: Das ökonomische Potential der Erde ruht heute auf viel mehr Schultern als noch vor zehn Jahren; wir sehen es an den außergewöhnlich hohen und auch dauerhaften Wachstumsraten der Weltwirtschaft. Das nutzt uns allen – den Industrieländern, den Schwellenländern und den Entwicklungsländern.
Das Herausfordernde daran: Gewohnheiten, Erbhöfe, angestammte Rechte sind keine Garantie mehr für Erfolg. Die alten Hierarchien ebnen sich ein. "Die Welt ist flach geworden", wie es der amerikanische Publizist Thomas Friedman beschreibt. Ressourcen, Potentiale und Macht können sich über Nacht völlig verschieben. Gestern hat das schweizerische Prognos Institut eine Studie veröffentlicht. Danach wird China in zwei Jahren, also im Jahr 2009, die Exportweltmeister des letzten halben Jahrhunderts, Deutschland und die USA, an der Spitze ablösen.
Aber die Herausforderung gilt natürlich nicht nur für die klassischen Industrieländer. Um es schonungslos auf den Punkt zu bringen: Diejenigen, die sich als Gewinner von morgen sehen, dürfen sich nicht zu sicher fühlen, dass sie auch die Gewinner von übermorgen sein werden. Ein Beispiel: Ich höre von einem deutschen Mittelständler im Maschinenbau – KTR Kupplungstechnik; hochspezialisiert und mit mehr als 40 Tochtergesellschaften, Ingenieurbüros und Vertriebspartnern weltweit –, dass dessen chinesischer Kunde die Produktion, nämlich die Weberei, bereits von China nach Botswana verlagert, der niedrigeren Lohnkosten wegen. Das zeigt, wie viel in Bewegung ist. Es zeigt aber noch mehr: Wenn wir es richtig anpacken, dann können Vorteile für alle drei Standorte erwachsen – seien es Arbeitsplätze, Exportchancen, Investitionen, Know-how-Transfer oder auch Steuereinnahmen.
Dennoch führt dieses Beispiel gerade auch zur Kehrseite der Globalisierung. Hoffnungen für die einen bedeuten Sorgen und Ängste für die anderen. Wir als Politiker kennen diese Ängste nur zu gut und müssen deshalb alles daransetzen, die Globalisierung auch politisch zu gestalten. Wir dürfen diese Seite nicht ausblenden, weil die Menschen auf uns schauen und fragen: Wird die Globalisierung menschlich gestaltet? Wir wissen ja: Innerhalb der einzelnen Volkswirtschaften sind die Folgen sehr, sehr unterschiedlich. Hinzu kommt, dass es auch heute noch viele Länder auf der Erde gibt, die vom globalen Aufschwung abgeschnitten sind. Zudem verschärft der globale, weltweite Wettbewerb den Raubbau an der Natur. Der Schutz geistigen Eigentums erodiert. Es ist offensichtlich, dass viele bisherige Antworten nicht mehr so recht funktionieren oder dass wir auf viele Fragen noch keine Antworten haben.
Das heißt: Mit den Folgen der Globalisierung umzugehen, bedeutet deshalb vor allem eine geistige Herausforderung, nicht zuletzt für die Europäer. In den letzten 200 Jahren waren wir und war Europa eine sehr eurozentristische Sicht auf die Welt gewohnt. Heute sehen wir: Die alte Übersichtlichkeit für uns ist dahin. Um das Bild der diesjährigen Überschrift von Davos noch einmal aufzunehmen: Die Gleichung der Kräfte von heute enthält eben sehr viel mehr Variablen, als es früher der Fall war. Das verunsichert viele, zumindest auf dem europäischen Kontinent.
Was läge da näher für Europa, als einfach am Altbewährten festzuhalten und sich im Übrigen abzugrenzen? Wir wissen: Auch im Jahr 2011 wird die Europäische Union noch mehr als viermal so viel zur Weltwirtschaftsleistung beitragen wie China. Könnte man da nicht auf den Gedanken kommen, die erfolgreichste Strategie läge darin, die eigenen Stärken rücksichtslos auszunutzen, sich die globalen Ressourcen gerade noch rechtzeitig für den Wohlstand zu Hause zu sichern und, um die eigenen Schwächen zu verdecken, schnell noch ein paar Schutzzäune aufzubauen? Meine ebenso klare wie eindeutige und kurze Antwort lautet: Nein. Ich bin davon überzeugt: Der Prozess der Globalisierung ist ein Prozess der Liberalisierung. Denn für alle gilt doch, was einer der amerikanischen Gründungsväter, Benjamin Franklin, gesagt hat: "Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren."
Mehr Freiheit für neue Sicherheit, das ist deswegen die Leitlinie, mit der wir – dabei spreche ich als amtierende EU-Ratspräsidentin – Europa zukunftsfähig machen wollen. In manchen Branchen, z. B. im Energiesektor oder bei Dienstleistungen, ist der europäische Markt noch keineswegs vollendet. Hier wollen und müssen wir vorankommen. Wir unterstützen deshalb die Europäische Kommission bei ihrem ehrgeizigen Ziel, 25 % der Bürokratielasten bis 2012 abzubauen. Das ist dann auch Verpflichtung zu größtem Engagement bei uns, in den einzelnen Mitgliedstaaten.
Wir werden, davon bin ich überzeugt, die Fülle der Herausforderungen in Europa allerdings nur bewältigen, wenn wir unser Gewicht gemeinsam in die Waagschale werfen. Als die Europäische Gemeinschaft gegründet wurde, waren ca. 21 % der Weltbevölkerung Europäer, heute sind es gut 11 % und zur Mitte dieses Jahrhunderts werden es nur noch ungefähr ein Drittel des ursprünglichen Anteils sein, nämlich 7 %. Zersplitterung können wir uns in Europa immer weniger leisten.
Mit den heutigen Regeln ist Europa allerdings kaum noch angemessen handlungsfähig. Ich bin deshalb davon überzeugt, dass der europäische Einigungsprozess jetzt eine Verfasstheit braucht, die auf die neuen und nicht auf die vergangenen Herausforderungen zugeschnitten ist. Wir wissen außerdem: Eine Erweiterung der Europäischen Union ist mit dem Status quo nicht machbar. Das ist der Grund, warum wir für den deutschen Ratsvorsitz gesagt haben: Wir brauchen einen neuen Anlauf im Verfassungsprozess. Wir wollen dazu im Juni einen Fahrplan vorlegen, damit die Handlungsfähigkeit Europas gewährleistet wird. Wir wissen – wir haben es ja durch die gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Niederlanden erlebt: Wenn wir das schaffen wollen, dann brauchen wir Bürger, die Vertrauen zu diesem Europa haben. Das heißt, wir müssen unsere gemeinsamen Grundlagen stärker betonen. Wir müssen dem einzelnen Bürger zeigen, dass diese Europäische Union für ihn persönlich richtig, wichtig und für sein Leben besser ist.
Wir werden am 25. März 2007 den 50. Jahrestag der Unterzeichnung der "Römischen Verträge" in Berlin feiern. Wir werden damit eine einmalige Gelegenheit haben, uns in der Stadt, die symbolisch für den Kalten Krieg und die Teilung Europas stand, noch einmal unserer gemeinsamen Grundlagen zu vergewissern. Das heißt: Europa kann Erfolg haben, wenn es gemeinsam agiert, aber es muss den Bürgerinnen und Bürgern zeigen, dass dies für Wohlstand und Stabilität stattfindet.
Als deutsche Bundeskanzlerin – dieser kurze Exkurs sei mir gestattet – weiß ich: Als größte Volkswirtschaft der Europäischen Union kommt hier eine große Verantwortung auf Deutschland zu. Denn ohne ein wirtschaftlich starkes Deutschland kann Europa wirtschaftlich nur schwer prosperieren. Deshalb haben wir uns im vergangenen Jahr zum Ziel gesetzt, dass wir binnen zehn Jahren wieder unter die ersten Drei in der Europäischen Union kommen wollen, was Wachstum, Beschäftigung und Innovationsfähigkeit anbelangt. Wenn wir uns die jüngsten Wirtschaftsdaten ansehen, dann können wir sagen: Wir sind diesem Ziel schon ein spürbares Stück näher gekommen. Die deutschen Unternehmen können ihre Weltmarktanteile trotz des zunehmenden Wettbewerbs nicht nur halten, sondern teilweise auch noch ausbauen. Die Lohnstückkosten entwickeln sich endlich wieder günstiger. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Beschäftigung steigt. Die Unternehmenssteuern werden wir auf unter 30 % senken und die staatliche Neuverschuldung wird in diesem Jahr aller Voraussicht nach die niedrigste seit der deutschen Wiedervereinigung sein. Auch die Staatsquote erreicht den niedrigsten Stand seit 1990.
Ich sage Ihnen das heute in diesem Kontext, weil ich weiß, dass mit wirtschaftlichem Erfolg auch die Verantwortung wächst, auch andere Regionen an Frieden, Wohlstand und Entwicklung teilhaben zu lassen. Das bedeutet, einen Beitrag dazu zu leisten, dass kommende Generationen nicht nur an einigen Stellen, sondern weltweit wirklich lebenswert leben können. Es ist doch eine der wesentlichen Erkenntnisse unserer Zeit: Unsere Welt wird zwar unterschiedlicher – es gibt alternde und sehr junge Gesellschaften, es gibt Länder, deren Reichtum sich auf Rohstoffe gründet und Länder, deren einziger Reichtum die Bildung und die Ideen ihrer Menschen sind, es gibt Regionen, die von religiösen und politischen Spannungen bedroht sind und heimgesucht werden, und es gibt Regionen, die davon verschont bleiben –, aber vor den gemeinsamen großen Herausforderungen stehen wir doch alle, und das in einem viel klareren Maße, als uns das früher bewusst war: Sicherung des freien und fairen Welthandels, stabile Finanzmärkte, die immer mehr zusammenwachsen, Schutz vor internationalem Terrorismus, sichere Energieversorgung, Beherrschung des Klimawandels, Umgang mit der Armutswanderung.
Es gibt also eine ganz einfache Begründung, warum Deutschland und Europa nicht nur Nabelschau betreiben dürfen, sondern den Blick über den Tellerrand richten müssen. Es liegt in unserem ureigenen Interesse, dass wir diese Herausforderungen in dieser Welt gemeinsam angehen. Um es mit einem afrikanischen Sprichwort auszudrücken: "Wenn du schnell vorwärts kommen willst, dann gehe alleine. Wenn du weit gehen willst, dann gehe zusammen." Ich finde, wir sollten uns genau diese Weisheit zu Herzen nehmen. Ich darf ergänzen: Genau so wollen wir die Verantwortung Deutschlands und der Europäischen Union in der Welt angehen. Das soll natürlich durch die Agenda während unserer Präsidentschaft in der Europäischen Union und des Vorsitzes im Kreis der G8-Staaten deutlich werden. Viele Themen spielen in beiden Organisationen parallel eine wichtige Rolle. Dies gibt uns auch die Gelegenheit, die Ansätze durch die zeitgleichen Präsidentschaften miteinander zu verknüpfen.
Wir haben unseren G8-Vorsitz bewusst unter das Motto "Wachstum und Verantwortung" gestellt. Wachstum bleibt für alle Länder die Grundvoraussetzung, um mehr Beschäftigung, einen höheren Lebensstandard und eine höhere Ressourcenproduktivität zu erreichen. Wachstum ist aber kein Selbstzweck. Wachstum muss fair geschaffen werden und darf nicht durch unlautere Praktiken erzielt werden. Deshalb muss globaler Wettbewerb nach meiner festen Überzeugung in einem internationalen Rahmen stattfinden. Genau hier kommt die Politik ins Spiel, denn Politik trägt die Verantwortung für diese Rahmenbedingungen.
Wir haben uns deshalb vorgenommen, in unserer G8-Präsidentschaft wirtschaftliche Themen wieder stärker in den Mittelpunkt der Agenda zu rücken. Wir wollen die Möglichkeiten für weltweite Investitionen stärken und uns für die Gleichbehandlung von internationalen und inländischen Investitionen einsetzen. Wir wollen die gemeinsamen Anstrengungen der G8 fortsetzen, die globalen Ungleichgewichte, die stark ausgeprägt sind, abzubauen, z. B. bei Wechselkursen oder der Ölversorgung. Wir wollen die systemischen Risiken der internationalen Kapitalmärkte minimieren und dabei die Transparenz erhöhen. Ich sage sehr deutlich: Ich sehe vor allem bei den Hedge-Fonds erheblichen Nachholbedarf. Wir wollen Innovationen als Schlüssel für Wachstum und Wohlstand unterstützen und den effektiven weltweiten Schutz des geistigen Eigentums spürbar voranbringen. Wir wollen Impulse für den Klimaschutz geben, die Energieeffizienz stärken und die Versorgungssicherheit erhöhen.
Wenn ich das alles sage, dann ist mir bewusst: Die Aufgaben sind wahrlich riesig. Deshalb muss klar sein: Nur ein geschlossenes Auftreten der G8 kann dazu beitragen, die Schwellenländer, die derzeit eine besondere Dynamik aufweisen, was das Wirtschaftswachstum anbelangt, überhaupt mit in die gemeinsame globale Verantwortung zu nehmen. Alles andere wird nicht funktionieren. Deshalb strebe ich an, dass wir beim G8-Gipfel in Deutschland, in Heiligendamm, im Juni ganz besonderen Wert auf neue Formen des Dialogs mit den großen Schwellenländern legen, also mit Brasilien, China, Indien, Mexiko und Südafrika. Der Dialog soll dort gestartet und von dort aus dann auch in andere internationale Organisationen überführt werden, denn wir brauchen ein kohärentes, gemeinsames Vorgehen in den vielen internationalen Gremien.
Ich bin davon überzeugt, dass die unabdingbare Voraussetzung für globales Wachstum die Offenheit der Weltmärkte ist. Die Weltbank hat festgestellt, dass in den Ländern, die aktiv an der Globalisierung teilnehmen, das Wachstum deutlich zugenommen hat. In den abgeschotteten Ländern ist es hingegen gesunken. Das gilt sowohl für Industrie- als auch für Entwicklungsländer. Deshalb liegt es im allseitigen Interesse, die Doha-Runde zum Erfolg zu führen. Ich hoffe, dass dafür in diesen Tagen auch wichtige Gespräche geführt werden können. Die Chance für einen Erfolg ist zweifellos vorhanden. Allerdings müssen sich die Positionen Europas, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Schwellen- und Entwicklungsländer noch weiter annähern. Alle müssen bereit sein, Flexibilität zu zeigen. Die Verantwortung für einen Erfolg ruht auf vielen Schultern. Die Gefahr eines Misserfolgs wäre aber ein herber Rückschlag. Ich sage ausdrücklich: Wir sollten uns nicht nur auf den Agrarbereich konzentrieren. Auch bei den Verhandlungen über Industriegüter und Dienstleistungen brauchen wir dringend Fortschritte. Hierbei geht es um wesentliche Interessen der Industriestaaten – das ist mir bewusst. Deshalb müssen wir auch eine faire Balance finden. Wir haben ein nicht zu großes Zeitfenster für Verhandlungsfortschritte, das wir aber nutzen sollten.
Nicht als Gegensatz hierzu, sondern vielmehr als Ergänzung und Unterstützung des multilateralen Ansatzes halte ich daneben eine Intensivierung der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen für sehr wichtig. Die Geschichte hat uns immer wieder gezeigt, dass von einer engen transatlantischen Wirtschaftsverflechtung stets nachhaltige Wachstumsschübe ausgegangen sind. Das begann schon im 19. Jahrhundert, als Kapitalgeber aus Europa maßgeblich an der Finanzierung des amerikanischen Eisenbahnnetzes beteiligt waren, das für die industrielle Entwicklung Amerikas von allergrößter Bedeutung war. Wir erinnern uns umgekehrt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg, als Europa wirtschaftlich in einer kritischen Situation war, Kapital im Rahmen des Marshallplans von Amerika nach Europa floss. Dies wurde der Grundstein des Wiederaufbaus – nicht zuletzt für mein Land.
Nach wie vor sind die USA der wichtigste Handelspartner der Europäischen Union, wir sind füreinander auch die wichtigsten Investitionspartner. Ich glaube, das Potential der Zusammenarbeit ist noch nicht ausgereizt. Dabei spreche ich über die nicht-tarifären Handelshemmnisse, z. B. technische Standards, Regeln für Finanzmärkte, Fragen im Bereich der Energie, der Umwelt und des geistigen Eigentums. Ich sehe dabei viel Handlungsbedarf und viele Handlungsmöglichkeiten. Die verschiedenen Regulierungsansätze auf beiden Seiten des Atlantiks erzeugen völlig unnötige Transaktionskosten. Diese können wir abbauen. Binnenmarktähnliche Strukturen sollten unser Ziel sein. Diese Fragen werden wir beim Gipfel der Europäischen Union mit den USA am 30. April in Washington behandeln.
Ich will noch einmal klar und deutlich sagen: Dieser Ansatz wäre im Gesamtverständnis völlig fatal, wenn er sich gegen andere richten würde. Lassen Sie es mich umgekehrt so sagen: Dieser Ansatz ist gegen niemanden gerichtet. Mehr noch: Andere Länder, die in engen Handelsbeziehungen zu Europa und den USA stehen, würden von einer tieferen wirtschaftlichen Integration profitieren. Jedes Land, das die Förderung von freiem Handel und Investitionen teilt, lade ich ein, unserer Initiative beizutreten.
Meine Damen und Herren, es wird immer deutlicher: Wir alle – natürlich auch Europa, aber ich meine das darüber hinausgehend – müssen mehr über unseren jeweiligen Tellerrand schauen. Ansonsten wird die Gestaltung der Globalisierung nicht gelingen. Deshalb ist ein weiterer Schwerpunkt der deutschen G8-Präsidentschaft die Frage, wie wir auch Afrika stärker in die Weltwirtschaft integrieren können. Afrika hat eine Bevölkerung von 1 Milliarde Menschen. Wir wollen, dass mehr auf diesem Kontinent investiert wird und dass Wachstum und Beschäftigung auf eine breitere Basis gestellt werden. Wir können immerhin sagen, dass der Subsahara-Teil Afrikas in den letzten fünf Jahren ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 4 % verzeichnet hat. Das liegt nach Feststellung der Weltbank auch an der engeren Einbindung dieser Länder in die Weltwirtschaft. Entgegen mancher Schlagzeile in den europäischen Medien können wir unter dem Strich für Afrika feststellen: Mehr Wirtschaftswachstum, mehr demokratische Regierungen, weniger Konflikte. Darauf können wir aufbauen, diese Chance müssen wir nutzen. Es gibt noch unendlich viel zu tun.
Was wir verstärkt brauchen, ist vor allem der verantwortungsvolle Umgang mit Ressourcen und der Aufbau eigenständiger afrikanischer Kapazitäten zur Konfliktbewältigung und Friedenskonsolidierung. Das erleichtert dann nicht nur private Investitionen. Das stärkt vielmehr auch die afrikanischen Staaten als gleichberechtigte Partner, wenn es um die Frage des Zugangs und der Verfügung über afrikanische Rohstoffvorkommen geht. Denn eines darf nicht passieren, nämlich dass Afrika in einem Kampf um die Rohstoffquellen im 21. Jahrhundert erneut unfair behandelt wird. Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland hat einmal gesagt: "Die Menschlichkeit unserer Welt entscheidet sich am Schicksal Afrikas." Ich glaube, er hat recht.
Wir wissen, dass AIDS ganz ohne Zweifel eine der großen Herausforderungen unserer Zeit ist, nicht nur, aber insbesondere in Afrika. 40 Millionen Menschen sind weltweit mit dem HI-Virus infiziert. 70 % davon leben in Afrika südlich der Sahara. Schätzungen zufolge werden dort in den nächsten 20 Jahren ein Drittel der Erwerbspersonen an AIDS sterben. Die G8-Staaten haben in der Vergangenheit wichtige Initiativen gestartet, allen voran den "Global Fund on Combating AIDS, Tubercolosis and Malaria". Aber ich sage auch: Darauf können wir uns nicht ausruhen. Wir werden im September dieses Jahres in Deutschland eine Konferenz organisieren, auf der wir die Aktivitäten dieses Fonds bewerten wollen und uns vor allen Dingen um seine Wiederauffüllung kümmern müssen. Wir wollen in Bezug auf AIDS einen besonderen Schwerpunkt in unserer deutschen Präsidentschaft auf das Schicksal von Frauen und Kindern legen.
Meine Damen und Herren, dass globale Herausforderungen nur in umfassender internationaler Zusammenarbeit bewältigt werden können, zeigt sich auch in besonderem Maße bei den beiden größten Herausforderungen für die Menschheit. Ich glaube, dieses Wort ist nicht zu hoch gegriffen. Mit den beiden Herausforderungen meine ich den Klimaschutz und die Energieversorgung.
Gerade die vergangenen Wochen haben uns wieder gezeigt: Die Energieversorgung ist natürlich ganz wesentlich eine Frage der Liefersicherheit und damit auch politischer Rahmenbedingungen. Ich habe darüber aus dem europäischen Blickwinkel am vergangenen Sonntag mit dem russischen Präsidenten gesprochen. Wir waren uns einig – das gilt auch für viele andere Felder –, dass die Kommunikation im Falle von Schwierigkeiten verbessert werden muss. Ich füge hinzu, dass sie auch verbessert werden kann. Deshalb werden wir uns seitens der Europäischen Union darum bemühen, schriftlich verankerte marktwirtschaftliche Regelungen in unseren gegenseitigen Abkommen zwischen der Europäischen Union und Russland zu erzielen.
Aber fest steht auch: Wenn Europa seine Abhängigkeiten reduzieren will, um seine Energieversorgung langfristig zu sichern, dann gehört dazu, dass wir die Energieforschung verstärken. Wir wollen in Europa einen funktionsfähigen Binnenmarkt für Strom und Gas. Jeder Bürger soll seine Versorger frei wählen können. Ziel ist die Verabschiedung eines "Aktionsplans zu einer Energiepolitik für Europa". Dazu gehört auch, mit welchen Vorstellungen wir als Europäische Union in die Verhandlungen gehen, die sich mit dem Klimaabkommen nach dem Jahr 2012 befassen, also nach dem Auslaufen des Kyoto-Protokolls. Ich glaube, das ist wichtiger denn je.
Meine Damen und Herren, ich darf Sie daran erinnern, welche Furore vor über 30 Jahren, 1972, der Bericht des Club of Rome gemacht hat. Damals war die Rede von den "Grenzen des Wachstums". Damals wurde vor dem unverantwortlichen Umgang mit der Natur gewarnt. Mittlerweile stehen uns die dramatischen Folgen des Klimawandels klar vor Augen. Wer neben den wissenschaftlichen Erhebungen noch eines praktischen Beispiels bedurfte, den sollte der "Stern-Report" über die wirtschaftlichen Folgen überzeugen.
Wir brauchen uns nur in Europa umzuschauen und können damit in Deutschland beginnen: Unsere Kinder, die heute geboren werden, werden im Jahr 2020 kein Eis mehr auf der Zugspitze sehen. In dem Landstrich Deutschlands, in dem ich wohne, müssen wir uns Sorgen machen, ob Bäume, wie Eichen, noch wachsen werden. In Spanien und Portugal gibt es erhebliche Trocknungs- und Versteppungstendenzen. Wenn wir nach Afrika schauen, dann wissen wir, dass Teile der Migrationsbewegungen auch auf Umweltschäden zurückzuführen sind.
Aber anders als im Jahr 1972 im Bericht des Club of Rome ziehen wir heute eine andere Schlussfolgerung: Nicht Nullwachstum kann und wird die Antwort sein, sondern verstärkte Innovation, vor allem in die Umwelttechnologien. Nullwachstum würde letztendlich auf eine Festschreibung des Status quo hinauslaufen, eine gerade für die Schwellen- und Entwicklungsländer völlig inakzeptable Vorstellung. Wir wissen heute – das ist die Erfahrung seit Anfang der 70er Jahre, und das auf beiden Seiten, also der der Ökonomie wie der der Ökologie –, dass diejenigen unrecht hatten, die einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen Ökonomie und Ökologie gesehen haben. Nein, beides muss intelligent zusammen gestaltet werden. Das ist dann zum Wohle der Menschen. Es ist uns durch die Ölkrisen gelungen, dass wir Wirtschaftswachstum, Ressourcenverbrauch und CO2-Emissionen voneinander entkoppelt haben. Diese Entkopplung muss auch bei den Schwellen- und Entwicklungsländern möglich sein.
Europa misst dem Ausbau erneuerbarer Energien und dem Klimaschutz einen hohen Stellenwert bei. Seit 1990 ist die Energieproduktivität der Wirtschaft in der Europäischen Union um 19 % gestiegen. Das reicht nicht, aber ich sage das, weil wir daran sehen, dass wir Fortschritte erzielen können. Deshalb begrüße ich den Vorschlag der Europäischen Kommission, dass wir in den Verhandlungen für die Zeit nach 2012 ein Reduktionsziel von 30 % bis 2020 anbieten. Allerdings erwarten wir auch, dass sich andere große Emittenten in ähnlicher Weise beteiligen. Das heißt, wir schaffen Planungssicherheit, insbesondere auch für den Emissionshandel, für Investitionen in emissionsarme Technologien und für die energiepolitische Strategie Europas. Jeder kann erkennen, aber sollte auch erkennen: Wir wollen wirklich umsteuern, weil wir umsteuern müssen.
Meine Damen und Herren, ich höre auch hoffnungsvollere Signale aus den Vereinigten Staaten von Amerika, als es in den vergangenen Jahren der Fall war. Auch dort weiß man, dass Energieeffizienz und neue Technologien dringend erforderlich sind. Wenn der amerikanische Präsident gestern davon gesprochen hat, dass man den Benzinverbrauch in den nächsten zehn Jahren um 20 % reduzieren will, dann ist das ein ehrgeiziges Ziel, dann können wir auch in einen vernünftigen Wettbewerb eintreten. Das ist aber auch dringend erforderlich.
Wir wissen aber im Übrigen auch: Die Politik kann den Klimawandel alleine nicht verhindern. Wir brauchen ein Klimaregime, das alle großen Treibhausgasemittenten einbindet. Ich will vielleicht nur daran erinnern, dass die Europäische Union im Augenblick bei den Gesamt-CO2-Emissionen einen Anteil von 15 % hat. 85 % werden woanders emittiert; und der Anteil Europas wird sich verringern. Das heißt, wir brauchen hierbei eine globale Verantwortung. Ich freue mich, dass auch Impulse aus der Wirtschaft kommen, z. B. die so genannte 3C-Initiative zum weltweiten Klimaschutz des CEO von Vattenfall, Professor Lars Josefsson, und ich freue mich, dass diese Initiative vielfältige Unterstützung erfährt. Es wäre ein gutes Signal von hier und von anderswo, wenn sich viele Unternehmen – möglichst alle Unternehmen – daran beteiligen würden.
Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Globalisierung ist ein Wort, das vielen Menschen Angst einflößt und viele Menschen verschreckt. Ich bin jedoch überzeugt: Das, was Globalisierung ausmacht, bietet der Welt heute sehr viel mehr Chancen als Risiken. Sie bietet die große Chance zu mehr Frieden, mehr Freiheit und mehr Wohlstand für die Menschen. Damit sich diese positiven Kräfte der Globalisierung jedoch für alle Menschen entfalten können, müssen wir ein neues Gleichgewicht der Kräfte schaffen: Im Welthandel, im Ressourcenverbrauch, in der Bildung, im Kampf gegen AIDS und bei den Staatsfinanzen. Auf den Punkt gebracht: Wir brauchen eine Weltwirtschaft, die sich den Regeln eines fairen Ordnungsrahmens verpflichtet fühlt.
Deshalb ist es nicht wahr, dass der Staat durch die Globalisierung entbehrlich oder machtlos wird. Der Erfolg, den wir z. B. in Deutschland mit der Sozialen Marktwirtschaft hatten, ist aus meiner Sicht hierfür das beste Beispiel. Aber vielmehr wahr ist: Mit veränderten politischen Rahmenbedingungen, mit richtigen und fairen Rahmenbedingungen können wir die Globalisierung gestalten. Dazu wollen wir als Bundesrepublik Deutschland mit unserer Verantwortung für die europäische Präsidentschaft und für die G8-Präsidentschaft unseren Beitrag leisten. Ich hoffe, dass wir dafür viele Verbündete finden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!