am 30. Januar 2007 in Berlin
Sehr geehrte Herren Minister,
lieber Herr Koenigs,
sehr geehrter Herr Professor Naderi,
meine Damen und Herren,
Ich freue mich, Sie heute zu diesem Treffen begrüßen zu dürfen. Uns eint ein Wunsch: Wir alle wollen weiter und engagiert darauf hinarbeiten, dass die Menschen in Afghanistan ein Leben in Freiheit und Würde, ein Leben in Sicherheit und ohne Gewalt führen können.
Vor fast genau einem Jahr in London haben sich die afghanische Regierung und die Internationale Staatengemeinschaft realistische Ziele gesetzt. Anlass genug, heute eine erste Zwischenbilanz zu ziehen und kritisch zu fragen: Wo stehen wir?
Wir tun das im Verständnis, dass Tempo und Ausmaß des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbaus mehr denn je von den Entscheidungen der souveränen afghanischen Regierung und des demokratisch legitimierten afghanischen Parlaments bestimmt werden.
Unsere afghanischen Freunde sollen dabei wissen: Die Internationale Staatengemeinschaft steht auch weiterhin an ihrer Seite.
Vieles wurde in den letzten 12 Monaten erreicht. Beim Wiederaufbau geht es voran. Der Prozess der Institutionalisierung macht Fortschritte: Das Parlament hat sich konstituiert und verfügt über voll funktionsfähige Ausschüsse. In allen 34 Provinzen haben die Provinzräte ihre Arbeit aufgenommen. Mehr als 7 Millionen afghanische Jungen und Mädchen haben heute die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Die regionalen Wiederaufbau-Teams leisten gemeinsam mit ihren afghanischen Partnern Beträchtliches, um die Infrastruktur in den Regionen spürbar zu verbessern.
Das alles kommt den Menschen zu Gute. Aber machen wir uns nichts vor: Für viele Afghanen vollzieht sich der Wiederaufbau nicht rasch genug. In den südlichen Provinzen des Landes regruppieren sich diejenigen Kräfte, die die Menschen in religiös verbrämter Unfreiheit verharren lassen wollen. Bedauerlich muss uns auch stimmen, dass die Opiumproduktion in den letzten 12 Monaten drastisch zugenommen hat. Damit dürfen wir uns nicht abfinden.
Meine Damen und Herren,
Auch das internationale Umfeld, in dem sich der Wiederaufbau vollzieht, ist nicht einfacher geworden.
Wir müssen die schwieriger gewordenen Rahmenbedingungen ernst nehmen, unser Handeln darauf ausrichten sowie die Fähigkeit zur selbstkritischen Überprüfung des eingeschlagenen Weges wahren.
Diese Überlegung hat das Auswärtige Amt zu der Initiative veranlasst, die uns alle hier heute zusammengeführt hat.
Wir wollen damit einen politischen Gedankenaustausch anstoßen – eine möglichst offene Debatte darüber, wie wir unser Engagement zukünftig noch besser und zielgenauer steuern können.
Wir wollen jenen Fragen nachgehen, die auch unsere Öffentlichkeiten bewegen – übrigens die afghanische, wie ich höre, nicht weniger als jene in den Ländern, die seit 2001 Afghanistan und seinem Neuanfang verlässlich an der Seite gestanden haben.
Ich will Ihrer Diskussion nicht vorgreifen. Dennoch erlauben Sie mir die Fragen zu stellen, die uns besonders bewegen:
Sind die Koordinierungsverfahren, die wir in London im "Afghanistan Compact" vereinbart haben, ausreichend?
Setzt sich die politische Entschlossenheit der Hauptstädte, die Stabilisierung und den Wiederaufbau Afghanistans zum Erfolg zu führen, ausreichend in Taten um?
Müssen wir nicht noch stärker die Gewichtung zugunsten des Einsatzes ziviler Mittel verschieben?
Haben wir schon die richtigen Konzepte zur Auseinandersetzung mit dem Drogenproblem?
Wie kann man das regionale Umfeld Afghanistans besser zugunsten des Wiederaufbaus nutzbar machen?
Selbstverständlich folgen aus Fragen noch keine Lösungen.
Am Ende müssen praktische Schritte stehen.
Ich will hier drei Bereiche ansprechen, die aus deutscher Sicht besonders wichtig sind.
Erstens: Die Sicherheitssektorreform ist von überragender Bedeutung für den von uns gemeinsam geförderten afghanischen Transformationsprozess.
Wir – die internationalen Unterstützer des afghanischen Wiederaufbaus – helfen damit zugleich, ein Ende unseres militärischen Engagements in Afghanistan vorzubereiten, auch wenn ich weiß, dass das nicht in nächster Zeit bevorsteht.
Wir Deutsche tragen für den Aufbau der afghanischen Polizei als sogenannter Schlüsselstaat besondere Verantwortung.
Auch auf dem Hintergrund der Erfahrungen des letzten Jahres wollen wir dieses Engagement verstärken und zugleich europäisieren.
Die Präsidentschaft der EU strebt an, dass die EU-Außenminister bei der Ratssitzung im Februar die Grundsatzentscheidung zu einer ESVP-Polizeimission für Afghanistan treffen.
Zweitens: Alle haben es immer wieder gesagt: wir müssen militärisches Handeln besser mit zivilem Wiederaufbaumaßnahmen verknüpfen.
Das ist ein ausgesprochen anspruchsvolles Vorhaben. Wir haben in den letzten Monaten eine Reihe von Projekten – und zwar nicht nur im Norden des Landes! – gestartet, die gerade diese Schnittstelle zwischen militärischen und zivilen Verantwortungsbereichen betreffen.
Wir werden darin fortfahren.
Drittens – und vielleicht am wichtigsten:
Wir müssen alles tun, um afghanische Verantwortung, die "afghan ownership", zu fördern. Dieses seit dem Bonner Abkommen von 2001 fundamentale Prinzip des Wiederaufbauprozesses bleibt nach meiner Auffassung heute so richtig wie eh und je.
Wir, die Freunde Afghanistans, können am Ende nur Ziele und Maßnahmen unterstützen, die Sie auch selber verfolgen.
Das verlangt Ihnen oft auch schwierige Entscheidungen ab – etwa bei Themen wie Korruptionsbekämpfung, die Entwaffnung informeller Machthaber oder die Förderung guter Regierungsführung.
Meine Damen und Herren,
Ich freue mich, dass unsere Initiative auf deutliche Unterstützung trifft.
Ich möchte Sie ermuntern, auch scheinbar unkonventionellen Wegen nachzuspüren, um die Erfolgsaussichten unseres gemeinsamen Vorhabens zu verbessern.
Wir wollen ein neues Afghanistan, das seinen Bürgerinnen und Bürgern auf der Grundlage seiner Verfassung die Aussicht auf ein Leben in Frieden unter der Herrschaft des Rechts gewährleistet.
Wenn das Gespräch heute dazu neue Perspektiven aufzeigen kann, dann war es erfolgreich.
Dazu beizutragen, möchte ich Sie alle, besonders unsere afghanischen Gäste, sehr herzlich bitten.